Die erste große Liebe
Die große Liebe kam erst nach meinem Abgang von der Realschule.
Bis dahin war mein Leben zwischen sechs und sechzehn voll von diesen kleinen Momenten, die jeder kennt – ein Blick auf ein hübsches Mädchen, ein flüchtiges „Die würde ich gerne mal küssen“, ein leises Herzklopfen beim zufälligen Streifen der Hände. Aber nichts davon blieb. Es waren kurze Funken, kleine Aufblitzmomente im Alltag, zärtliche Gesten, die bald wieder verwehten.
Dann kam dieser Tag in meiner ersten Arbeitsstelle – einem Lebensmittelgroßhandel. Ich war gerade dabei, mich an das frühe Aufstehen, das Rattern der Hubwagen und den Geruch von Kartons zu gewöhnen, als sie plötzlich vor mir stand.
Kurze blonde Haare. Blaue Augen. Sommersprossen, die tanzten, wenn sie lachte.
Und dann dieser Blick – keck, neugierig, direkt.
Zack.
Alarm im Haufen.
Ein einziger Augenblick, und ich hatte das Gefühl, ihr direkt ins Herz zu sehen. Etwas in mir wurde ganz still, während gleichzeitig alles in Bewegung geriet. Auf dem Heimweg hatte ich das Gefühl, mein Körper sei zu leicht für die Erde. Flugzeuge im Bauch, ein Hormon-Hurrikan, wie man heute sagen würde.
Am nächsten Tag schlich ich durch alle Gänge des Lagers, immer mit einem Auge auf der Suche nach ihr. Und tatsächlich – ein Lächeln, ein kurzes Gespräch, ein paar Sätze über Arbeit, Pausen, Musik.
Es war da. Dieses unsichtbare Band.
Ich wurde mutiger, fragte sie, ob wir unsere Kaffeepause gemeinsam verbringen wollten. In der Kantine saßen wir uns gegenüber, und die Gespräche flossen wie von selbst. Wir lachten. Wir verstanden uns. Ich spürte, dass sie mich mochte – auf eine Weise, die ganz neu war für mich.
Nachts lag ich wach, dachte an sie, sah ihr Gesicht vor mir. Ich konnte es kaum erwarten, sie am nächsten Morgen wiederzusehen.
Ich erfuhr, dass ihre Eltern eine Wäscherei führten. Als ich sagte, dass das ja auf meinem Heimweg liege, lächelte sie – und so zogen wir eines Nachmittags gemeinsam los. Ein Sommertag, wie aus dem Bilderbuch. Der Himmel leuchtend blau, die Luft schwer vom Duft der Wiesenblumen, das Zirpen der Grillen überall.
Wir gingen nebeneinander, sprachen leise, manchmal schwiegen wir auch. Und dann, ganz von selbst, nahm ich ihre Hand. Wir blieben stehen.
Ihr Blick traf mich wie ein Schlag. So tief, so klar – und in mir begann alles zu beben.
Ein erster warmer Sommerregen setzte ein, die Tropfen glänzten auf ihrer Haut.
Dann küssten wir uns.
Zuerst zögerlich, dann ganz natürlich, als hätte die Welt darauf gewartet.
Ich schmeckte Regen, Haut, Leben – und sie. Es war, als würde die Zeit stillstehen.
Ich spürte meine Gänsehaut, die feuchte Kleidung, das Herzklopfen in jeder Faser meines Körpers. Aber nichts davon störte. Es war pures Glück, so echt, so überwältigend, dass ich glaubte, die Welt müsse sich dafür kurz verneigen.
An vielen Tagen danach trug ich dieses Gefühl in mir – ein heimliches, warmes Leuchten, das nicht verging. Ich war verliebt. Und es fühlte sich an, als könnte ich alles schaffen.
Dann begann die Zeit des Kennenlernens. Die Familie, die Erwartungen, die Kompromisse. Wir planten, träumten, tasteten uns aneinander heran. Auch körperlich – vorsichtig, neugierig, erfüllt von diesem Drang, den man kaum versteht. Wir lernten, wo die Grenzen lagen, und suchten sie doch immer wieder.
Ich wollte alles richtig machen. Mich neu erfinden. Für sie. Für uns.
Doch kurz bevor ich glaubte, alles würde sich fügen, kam das Ende.
Ein Telefonat.
Kurze Worte.
Kein Zögern. Kein Erklären.
Sie wollte nicht mehr. War wieder mit ihrem Exfreund zusammen.
Ich stand da, sprachlos. In mir sackte alles zusammen.
Blutsturz vom Kopf bis in die Füße.
Ich liebte sie doch so sehr.
Was blieb, war Leere. Tränen, unaufhaltsam. Nächte voller Weinkrämpfe.
Dieses Gefühl, dass alles, was einen eben noch getragen hatte, zerbricht und in tausend Stücke fällt. Ich weinte, bis ich leer war. Und selbst dann kam immer wieder dieses Ziehen in der Brust, dieser Schmerz, der einfach nicht gehen wollte.
Erst nach fast einem Jahr ließ der Schatten langsam nach. Ich sah wieder in den Spiegel und erkannte jemanden, der – trotz allem – noch etwas Liebenswertes in sich trug.
Ich verstand: Für mich war sie die große Liebe.
Für sie war ich nur ein Stück Weg.
Und das ist wohl das Wesen der Liebe – sie ist niemals gleich.
Für den einen ist sie ein Versprechen, für den anderen eine Erfahrung.
Für mich war sie beides. Und sie hat mich verändert – für immer.