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Kinderliebe – Rosa, ein Lichtblick

In meinem Leben bin ich vielen Menschen begegnet und habe auch einige Mädchen kennengelernt. Wenn sie von ihrer ersten Liebe oder ihrem ersten Kuss erzählten, war das nicht immer ein schönes Erlebnis. Manche berichteten von aufdringlichen Küssen, wilden Zungen, und waren eher abgestoßen. Ich hingegen hatte das unglaubliche Glück, dass mein erster Kuss ein kleines Wunder war.

Jede Liebe hatte in meinem Leben eine Bedeutung für einen bestimmten Abschnitt. Man sagt ja oft: „Das ist meine Lebensabschnittsgefährtin.“ Bevor ich jedoch zur ersten großen Liebe komme, muss ich diese kleine Geschichte erzählen – die Kinderliebe, die vielleicht die Grundlage für alles Weitere gelegt hat.

Damals wohnte ich in Wuppertal, direkt an einer Vierspurigen Bahnstrecke, auf der noch Dampflokomotiven in die weite Welt fuhren. Unsere Sackgasse endete am Bahngleis, und hinter einer bröckeligen Ziegelsteinmauer lag ein wildes Abenteuerland – Ruinen, überwucherte Grundstücke, Brombeerbüsche, Birken und riesiger Knöterich. Aus dessen Stängeln bastelten wir Blasrohre, und mit den kleinen weißen Schneebeeren des Knallerbsenstrauchs wurden daraus Pfeile für unser „Cowboy und Indianer“-Spiel.

In dieses kleine Universum zog Rosa, ein italienisches Mädchen, im Spätsommer 1959 ein. Dunkle Zöpfe, ein braun gebranntes Gesicht, tiefe braune Augen, ein verschmitztes Grübchen auf der Wange. Von unserer Küche aus konnte ich direkt in ihr Wohnzimmer blicken. Rosa war ein kleiner Wirbelwind, neugierig, mutig und lebendig – ein Lichtblick in unserer doch eher dunklen Sackgasse.

Ich selbst war stolzer Besitzer eines Kinderwagens, in dem eine schwarze Puppe lag. Sofort verband uns die gemeinsame Liebe zu den Puppen: Rosa griff neugierig nach dem Wagen, ordnete die Decke zurecht, und plötzlich teilten wir unsere Spielsachen. Meine Puppe mit dem roten Feuermund, sie mit ihrem Teddy – wir waren ein Team.

Rosa war ein kleiner Wirbelwind. Stundenlang konnte sie Seil springen, wieselflink laufen, schneller als jeder Junge. Beim Fangenspielen war sie kaum zu erwischen. Doch in ihren Augen glomm immer ein triumphales Feuer – ein Zeichen, dass sie genau wusste, dass sie mir ebenbürtig war. Mit den anderen Jungen wollte ich Rosa nicht teilen. Sie war meine Entdeckung.

Der Junge mit dem Kinderwagen

Und wir kamen sehr schnell zusammen, denn ich war stolzer Besitzer eines  Kinderwagen, mit dem ich stolz wie Oskar eine schwarzen Puppe durch die Straße fuhr. Die Jungen in der Nachbarschaft riefen immer: „Iiiih da kommt er wieder mit seiner Negerpuppe”  Ja jetzt grämt euch nicht, aber das hieß eben damals so.

 

So stand ich eines frühen Nachmittags am Fenster. Da tauchte sie zum ersten Mal vor der Haustür auf. Ein weißes Kleidchen mit einem Blümchen-muster. Kaum hatte ich Rosa vor der Tür entdeckt , hatte ich das Gefühl mich einmal ordentlich in Szene setzen zu müssen. Mühsam schleppte ich mein Gefährt die zwei Etagen hinab und ging auf meiner Bürgersteigseite ein Stück auf und ab.

Und ich war erfolgreich mit dem ersten Anlauf. Sie blickte zu mir herüber und kam dann von einem auf das andere Bein hüpfend zu mir. Keineswegs  schüchtern, griff sie mit einer Hand  in den offenen Sportwagen und zog die Decke, die von den Beinen der Puppe gerutscht war und richtete sie ordentlich aus.  Rosa mochte meine Puppe sofort. Das spürte ich und  das verband uns natürlich sofort. Sie hatte zwar keine Puppe, aber das war mir egal. Hauptsache sie war ein Mädchen, denn Brüder hatte ich genug.

Also haben wir uns meine schwarze Puppe, mit dem roten Feuermund und dem hellblauen Strampler, es war ein Junge, logisch, in der nächsten Zeit  erst einmal geteilt. Manchmal brachte sie einen arg malträtierten Teddy mit. Später wurde sie dann aber auch Puppenmutter und zwar mit einem geschlossenen Babywagen. Beige aus Korbgeflecht. Ein schickes Teil.

Rosa war ein kleiner Wildfang. Sie ging eigentlich nie, sondern hüpfte ständig von einem Bein auf das andere. Beim Seilhüpfen war sie Weltklasse. Sie konnte wieselflink laufen. Stundenlang. Beim kriegen spielen, war sie eigentlich nicht zu erwischen und immer den Tick schneller als wir Jungens. Am Ende war jeder glücklich und außer Atem, wenn er sie dann mal erwischt hat. Und sie hatte diesen ganz besonderen Glanz und ein unglaubliches triumphales Feuer in den Augen, das Mädchen an den Tag legen, wenn sie sich den Jungen ebenbürtig fühlen. Mit den anderen Jungen wollte ich Rosa eigentlich nicht teilen. Sie war ja auch meine Entdeckung.

Ein Pfennig auf dem Schienengleis

Eines Tages führten uns unsere Abenteuer an die Bahngleise. Vier Gleise, auf denen die Dampfloks Rauch und Dampf in den Himmel stießen, wirkten beeindruckend und furchteinflößend zugleich. Rosa ergriff meine Hand – warm, weich, anders als die Hände meiner Brüder. Ich wollte sie nie wieder loslassen.

Dann lag da ein Kupferpfennig auf den Schienen – eine Mutprobe, initiiert von Axel, einem Nachbarsjungen. Rosa kletterte mutig über die Schienen, legte den Pfennig auf die Schiene, während wir gespannt zusahen. Die Dampflok näherte sich. Rauch, Dampf, Lärm – wir hielten uns an den Händen, als der Boden unter uns zu schwanken schien.

Als der Zug vorbei war, hob Rosa den verformten Pfennig auf. Wir staunten, unsere Augen leuchteten. Ab diesem Moment wusste ich: Ich habe Rosa geliebt. Sie war genial, mutig, größer als ein großer Bruder.

 

Ein Baukran und der erste Kuss

Es war ein warmer Maitag, kurz nach meinem sechsten Geburtstag. Die Bande machte sich wie jeden Nachmittag auf den Weg in unser geheimes Reich – hinter der Ziegelsteinmauer, in den wilden Büschen. Doch heute war alles anders: Wie aus dem Nichts ragte mitten zwischen den Sträuchern ein riesiges gelbes Monster auf. Ein Baukran! Ich starrte die Kabine und das lange Gerüst an. Ein Monster aus Stahl, das plötzlich unser Spielparadies übernommen hatte.

Wir waren erst einmal sprachlos. Dann beschlossen wir, Verstecken zu spielen. Die Sonne schien warm durch die Blätter, die Luft roch nach Frühling, nach trockenem Holz und Erde. Axel zählte, wir rannten los. Rosa und ich liefen um den Kran herum. Auf der anderen Seite war die Kabine offen. Ich griff ihre Hand und flüsterte: „Komm schnell hier rein!“

Wir hockten dicht nebeneinander auf dem Boden der Kabine, Beine, Arme, Hände – alles eng aneinander. Ein prickelndes Gefühl durchströmte mich. Ich wusste nicht genau, was es war, nur, dass es schön und aufregend war. Ich legte meinen Zeigefinger an die Lippen: „Pst! Leise! Hier finden uns die anderen nie.“

Rosa sah mich an, ihre Augen glänzten dunkelbraun, tief und lebendig. Mein Herz schlug schneller, mir stieg das Blut in die Wangen. „Darf ich dich küssen?“ fragte ich. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Rosa schaute mich ernst, fragend: „So wie Papa und Mama?“

„Ja, so“, hauchte ich und spürte, wie mein Herz beinahe zersprang vor Aufregung. Ich legte vorsichtig meinen Arm um ihre Schulter, wir rückten näher. Augen geschlossen, Lippen berührten sich – weich, warm, zart. Es war anders als alles, was ich vorher gespürt hatte. Ein Gefühl von Nähe, von Zusammengehören, von unbeschreiblicher Freude.

Ich roch ihren Atem, süß wie Erdbeeren und Früchte, sah ihre sanfte Haut vor mir, spürte die Wärme ihrer Hand in meiner. Ein Moment voller Staunen, voller Magie. Ich wollte, dass er nie endete. Wir blieben zusammen, die Welt drumherum verschwand.

Doch dann hörten wir Axels Ruf: „Ich glaub, ich weiß, wo die sind!“ – die Magie war vorbei. Wir sprangen auf, liefen zu den anderen, als wäre nichts geschehen. Doch etwas tief in mir war anders. Eine Saite in meinem Inneren begann zu schwingen, die nie wieder ganz still werden sollte. Ich fühlte mich gleichzeitig neu geboren und ganz durcheinander.

Dieser erste Kuss war kein bloßes Spiel. Er war ein zarter Beginn von etwas, das mich mein ganzes Leben begleiten sollte: Sehnsucht, Erinnerung, Wärme und das kleine, unvergessliche Abenteuer der Kindheit.